Ärztliche Versorgung
„Das Thema ist superkomplex“
Gesundheit „Ärztliche Versorgung in der Krise“ war das Thema, zu dem die CDU-Landtagsabgeordnete Dr. Natalie Pfau-Weller kompetente Gesprächspartner in den Räumen der BKK Scheufelen versammelt hat. Von Peter Dietrich
Das Thema Ärztliche Versorgung sei „superkomplex“, stellte die Kirchheimer CDU-Landtagsabgeordnete Dr. Natalie Pfau-Weller nach gut zweieinhalbstündiger Podiumsdiskussion fest. Aus dem Landtag hatte sie Michael Preusch, Sprecher der CDU-Landtagsfraktion für Gesundheitspolitik, mitgebracht. Der ehemalige Leibarzt von Bundeskanzler Helmut Kohl hatte Zahlenmaterial dabei. Zählt man alle Ärzte in Baden-Württemberg zusammen, inklusive Kliniken, versorgt ein Arzt im Land 207 Einwohner.
Bundesweit geht jeder Bürger und jede Bürgerin im Durchschnitt knapp zehnmal pro Jahr zu einem Arzt, inklusive Vorsorgetermine.
Insgesamt gibt es in Baden-Württemberg pro Jahr gut 69 Millionen „Fälle“. Dabei werden die Kliniken überschätzt: Auf sie entfallen nur 3,5 Prozent der Fälle, auf die niedergelassenen Ärzte hingegen 91 Prozent. Preusch zeigte einen gravierenden Widerspruch auf: Es habe noch nie so viele Ärzte und Medizinstudenten in Baden-Württemberg gegeben wie aktuell. Zugleich seien so viele Hausarztsitze unbesetzt, wie nie zuvor.
Der Frauenanteil beim Medizinstudium habe stetig zugenommen, inzwischen sind 73 Prozent der Absolventen weiblich. Parallel gibt es mehr Teilzeitarbeit als früher.
Die Medizin habe sich in immer mehr Fachbereiche aufgespalten, dies führe zu einem Mehrbedarf. Die Gehälter in den Kliniken hätten sich deutlich verbessert, die Arbeitsbedingungen ebenfalls. Dadurch schwinde der Druck, die Klinik zu verlassen und sich als Arzt niederzulassen. „Die Klinikärzte sind im Durchschnitt älter als früher.“ Zudem gebe es ein Verteilungsproblem, mit einem Mangel im ländlichen Bereich. Mit Landarztstipendien lasse sich gegensteuern. Die Zahl der Medizinstudenten zu erhöhen, sei schwierig: Es wirke sich erst in etwa 10 Jahren auf die Praxisversorgung aus, und die Qualität der Ausbildung würde leiden. Das Land unterstütze die Einrichtung Medizinischer Versorgungszentren (MVZ). „Sie müssen in ärztlicher, nicht in kommunaler Hand sein.“
Die aktuelle Versorgung sei in den nächsten 10 bis 15 Jahren nicht aufrechtzuerhalten, sagte Wolf-Peter Miehe, Facharzt für Innere Medizin und Allgemeinmedizin und Vorsitzender der Ärzteschaft Nürtingen. Denn es seien inzwischen mehr Einsatz und Zeit pro Patient nötig. „Wir werden länger auf Termine warten müssen.“ Gestresste Ärzte würden „noch mehr Kaffee trinken als ohnehin schon“.
„Wir haben eine extrem arztzentrierte Versorgung in Deutschland“, sagte Karin Maag, unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses. Im Ausland seien noch Pflegeinrichtungen dazwischengeschaltet. Das Quartalsprinzip müsse weg: Derzeit gingen Erkrankte viermal im Jahr zum Arzt, egal wie sie sich fühlten, der Arzt brauche das wegen seiner Kosten.
„Die Leute müssen lernen, mit ihrer Gesundheit umzugehen“, forderte Norbert Smetak, Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie, Angiologie und Vorsitzender von MEDIGeno, mehr Selbstkompetenz für den Patienten.
Bringt die Digitalisierung eine Entlastung? Das E-Rezept sei gut angelaufen, sagte Wolfgang Allgaier, Vorstand der BKK Scheufelen. „Das wird auch noch was, wenn die Kinderkrankheiten weg sind.“ Er sei „kein großer Fan“ der elektronischen Patientenakte, sie habe Probleme mit der Akzeptanz. Apps könnten eine Vereinfachung bringen, „statt drei Seiten mit dem Kuli auszufüllen“.
Auch Miehe sprach prinzipiell pro E-Rezept. Wenn allerdings statt des Rezepts ein Abholbeleg mit QR-Code auszudrucken sei, sei der Gewinn nicht einzusehen. Schwerstbehinderte Erwachsene fielen mit dem 18. Geburtstag in ein Loch, kritisierte er außerdem. Patienten bräuchten Zuwendung und Zeit, doch die Strukturen seien im Moment nicht fair: Das bilde sich nicht in der Honorierung ab.
Smetak sprach sich für Versorgungsmodelle aus. „Wenn der Patient gesteuert dort hinkommt, wo er hingehört, macht er weniger Kosten.“ Eine solche Steuerung könne auch über den Geldbeutel erfolgen. Pfau-Weller zeigte sich „erstaunt, wie teuer manche Medikamente sind, das ist den Patienten nicht bewusst“.
Für die Finanzierung des Gesundheitssystems gibt es laut Allgaier drei Quellen: die steigenden Beiträge, Steuermittel und Zuzahlungen. Er erwarte eine Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen. Er sprach sich auch für eine breitere Bemessungsgrundlage – Stichwort Kapitaleinkünfte und Mieteinnahmen – aus. Seit 10 Jahren könne ein Patient aus der Gesetzlichen Krankenversicherung eine Rechnung verlangen, um seine Kosten zu kennen, doch keiner tue es, sagte Smetak.
Sie wisse gar nicht, was sie da reinschreiben solle, entgegnete eine Hausärztin unter den rund 50 Zuhörern im Saal der BKK Scheufelen.
Denn was sie an Geld bekomme, erfahre sie erst viel später. Sie nannte ein Beispiel aus dem Jahr 2023: „60 Euro pro Quartal und Patient, auch wenn er zehnmal kommt.“ Sie könne ihre Einnahmen nicht planen.
Die Einnahmen der gesetzlichen Krankenkassen sind hingegen gut abzuschätzen, sie werden 2024 voraussichtlich bei rund 314 Milliarden Euro liegen. „Die Frage ist, wie wir das Geld verteilen“, sagte Miehe. „Wir setzen das Geld nicht so ein, wie wir es brauchen.“
Kritik am Risikostrukturausgleich
Von den Beiträgen , die die BKK Scheufelen einnimmt, fließen laut Allgaier 35 Prozent in den Risikostrukturausgleich ab. „Ein gewisser Ausgleich ist wichtig“, sagte er. Sonst habe die eine Krankenkasse einen Beitragssatz von 13 Prozent und die andere einen von 20 Prozent. Dennoch gab es im Podium
erhebliche Kritik an den hohen Summen, die aus Baden-Württemberg in andere Bundesländer abfließen. Alleine aus dem Landkreis Esslingen seien es in einem Jahr 44 Millionen Euro gewesen.
20 bis 30 Jahre lang habe Baden-Württemberg an der Strukturoptimierung gearbeitet, sagte Preusch. „Nordrhein-Westfalen und Bayern taten das nicht. Damit finanzieren wir andere.“ Bevor aber im Land eine Klinik geschlossen werde, müsse es regionale Strukturgespräche, also einen runden Tisch, geben. Denn auch in Baden-Württemberg seien nicht alle Regionen gleich.